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24
Januar
Ein S.O.S., das keines war
Auf hoher See wird das größte Schiff winzig klein, selbst ein Tanker von zweihunderttausend Bruttoregistertonnen ist gewissermaßen nur Plankton in einer gewaltigen Wasserwüste: Schlug in den Pioniertagen der Weltschifffahrt ein Dampfer auf hoher See leck, bewältigten die Lenzpumpen das eindringende Wasser nicht mehr, dann war der Havarist so gut wie verloren. Zumindest war es so bis vor hundert Jahren. Denn am 23. Januar des Jahres 1909 gelang es erstmals einem Marconi-Mann, ‚funkentelegraphisch‘ einen Rettungsruf von einem havarierten Postschnelldampfer abzusetzen. 1.600 Passagiere konnten mit Hilfe der drahtlosen Telegraphie gerettet werden, bevor das Schiff dann doch noch unterging. Für seine bahnbrechende Erfindung erhielt Graf Marconi noch im gleichen Jahr den Physiknobelpreis.


RMS Republic / wikimedia / Commons

Das ‚Royal Mail Ship‘ RMS Republic verließ am 22. Januar New York in Richtung Gibraltar. Eine Kreuzfahrt für vermögende Passagiere nach Italien und Ägypten war geplant. Gleich nach dem Auslaufen, vor Martha’s Vineyard, geriet das Schiff in dichten Nebel. Vom luxuriösen Flaggschiff der englischen White Star Line ertönte zwar fortan in regelmäßigen Abständen das jammervolle Klagen des Nebelhorns. Die Geschwindigkeit aber setzte Kapitän Inman Sealby auf der vielbefahrenen Wasserstraße kaum herab.

Plötzlich, gegen vier Uhr morgens, riss ein fürchterlicher Stoß und Krach Passagiere und Besatzung aus dem Schlaf – der Bug der ‚Florida‘, eines Auswanderschiffes des Lloyd Italiano mit 800 italienischen Migranten an Bord, hatte sich backbords und mittschiffs metertief in den Rumpf der Republic gebohrt. Auf jedem der beiden Schiffe starben auf der Stelle drei Menschen.

Jack Binns hieß der Funker oder ‚Marconi-Man‘ an Bord der Republic, der nun zu einem Helden der Technikgeschichte wurde: Trotz des sofortigen Stromausfalls an Bord gelang es ihm, mit Hilfe der Notstrombatterien den ersten gefunkten Rettungsruf der Seefahrtsgeschichte abzusetzen: „Als wir die Batterien zum Betrieb der Funkenspulen anschlossen, betrug unsere Reichweite ungefähr 60 Seemeilen. Es war dunkel und neblig, die Luft war schneidend kalt. Ich zog mir so viele Klamotten über, wie ich finden konnte, wickelte noch einen Regenmantel drumherum und begann C Q D zu senden“, erzählte Binns später einem Radioreporter. Dieses C Q – das war das damalige Funkerkürzel für ‚Seek You!‘ oder – frei übersetzt – für ‚Aufwachen!‘, ‚Alle mal herhören!‘ oder ‚Alle Stationen!‘. Das ‚D‘ am Ende wiederum stand für ‚Danger‘ oder ‚Distress‘. Vollständig lautet der legendäre Funkspruch: „CQD! An alle! Seenot! Republic von unbekanntem Dampfer 26 Seemeilen südwestlich von Nantucket gerammt. Hilfe dringend erforderlich“.

Der Hilferuf erreichte sieben Schiffe im näheren Umkreis, die sich vorsichtig durch den Nebel herantasteten - und auch einen gewissen Jack Irwin von der Relais-Funkstation Siasconsett auf der nahegelegenen Insel Nantucket. Der wiederum informierte mit seiner wesentlich stärkeren Anlage weitere Schiffe über das Unglück – vor allem alarmierte er aber die weltweite Öffentlichkeit. Um kurz nach sieben Uhr am Morgen traf dann das Schwesterschiff ‚Baltic‘ der White Star Line am Unglücksort ein. Es war groß genug, die 1.600 Passagiere der ‚Republic‘, aber auch die 800 Auswanderer auf der ‚Florida‘ zu übernehmen. Bis heute gilt diese Aktion als größter Passagiertransfer aller Zeiten auf offener See.

Der evakuierte Rumpf der ‚unsinkbaren‘ Republic wurde noch am gleichen Morgen Richtung New York geschleppt. Die strapazierten Schotten in dem aufgerissenen Schiffskörper hielten jedoch dem Wasserdruck nicht stand. Gegen Mittag des 24. Januar sank das Schiff unweit von Nantucket. Heute ist dieses Wrack eine Legende für jeden Schatzsucher. Es soll große Mengen ‚Zarengold‘ an Bord gehabt haben, dazu weitere Goldmünzen, die für die amerikanische Mittelmeerflotte gedacht waren. Stimmt dies Gerücht, dann entspräche der heutige Wert der Ladung einigen Milliarden Dollar.

Der erste funktelegraphische Notruf des Jack Binns hatte historische Folgen: Zunächst einmal war es war das erste massenmediale Großereignis der Geschichte, von dem ‚live‘ in alle Welt berichtet wurde. Zahllose Extrablätter begleiteten die Pioniertat des ‚Marconi-Mannes‘ von der ‚Republic‘. Und funktechnisch wandelte sich kurz darauf das ‚CQD‘ in ein ‚SOS‘. Diese Buchstabenkombination wurde deshalb gewählt, weil eine Folge aus drei kurzen, drei langen und drei kurzen Signalen den schläfrigsten Bordfunker im Nu hellwach werden lässt – es wirkt wie eine Art ‚Tatü-Tata‘ des Morsealphabets. Nachträglich erst kam die Bedeutung hinzu, dass diese Signale eine Abkürzung seien für ‚Save Our Souls‘ oder ‚Save Our Ship‘.

Perspektivisch gesehen, hatte die glückliche Rettung nahezu aller Passagiere von Bord der ‚Republic‘ tragische Folgen: Konkrete Vorschriften für stärkere Schotten oder für Art und Zahl verfügbarer Rettungsmittel an Bord unterblieben, weil dieses Unglück ‚glimpflich‘ ausging. Drei Jahre später versank dann ein weiteres ‚unsinkbares‘ Passagierschiff der White Star Line mit Mann und Maus im Nordatlantik: Es hieß ‚Titanic‘ …

 
 
13
Januar
100 Jahre: Marinus van der Lubbe
Er war ein Täter, dem die Tat genommen wurde. Denn das Fanal des Marinus van der Lubbe vom 27. Februar 1933 fiel zunächst so spektakulär aus, wie er es beabsichtigt hatte. Trotzdem kam dann alles anders als gedacht: Die brennende Reichstagskuppel ermutigte keineswegs die deutschen Arbeiter zum Widerstand. Förmlich das Gegenteil geschah: Im Handumdrehen okkupierten die NS-Herrscher das Großereignis und nutzten es für ihre Zwecke. Dank der politischen Steilvorlage aus dem räte-anarchistischen Raum und eines Aktivismus von eigenen Gnaden gelangen ihnen Diktatur und Machtergreifung.

Aber auch der bedrängte Kommunismus instrumentierte den Brand für den Propagandaapparat des Willi Münzenberg und ortete fortan SA-Leute mit brennenden Fackeln in der Hand dort, wo keine gewesen waren. Kurzum: Als eine der dämlichsten politischen Taten, die je von deutschem Boden ausgingen, lässt sich die Brandstiftung des holländischen Polit-Vagabunden bezeichnen. Am 13. Januar 2009 wäre dieser politische Wirrkopf Marinus van der Lubbe 100 Jahre alt geworden.


28. Februar 1933: Der Morgen nach der Nacht zuvor BA Commons

Jener Mietling und Desperado, als den ihn National- und Moskausozialisten gleichermaßen zeichneten, war der augenverletzte Sozialromantiker aber nie gewesen. Den fragwürdigen Ruhm seiner dummen Tat darf Marinus van der Lubbe bis heute nicht genießen. Der Frühinvalide, der von einer kleinen Berufsunfähigkeitsrente lebte, galt und gilt vielen weiterhin als stumpfsinniger Handlanger anderer Kräfte. Obwohl doch, seit einer Artikelserie im Spiegel, die der niedersächsische Ministerialrat Fritz Tobias im Jahr 1959 verfasste, kaum ein Historiker mehr die Alleintäterschaft des holländischen Landstreichers in Zweifel zieht. Im journalistisch-publizistischen Bereich aber lebt jene Legende fort, die im Kern auf einem Cui-bono-Argument basiert: Weil die Tat den Nazis nützte, müssen es die Nazis gewesen sein (Zur angeblichen 'Kontroverse' darum s. diesen Artikel: "Eine Kontroverse im wissenschaftlichen Sinne hat es nie gegeben").

Der Henker, der van der Lubbe am 10. Januar 1934 zum Schafott führte, trug blendend weiße Handschuhe, einen makellosen Frack, gekrönt von einem glänzenden Zylinder, wohl um die Sauberkeit und Wohlanständigkeit der tragischen Justizposse zu bezeugen. Zwölf angesehene Bürger Leipzigs wohnten als Zeugen der amtlichen Zweiteilung bei. Sie sahen, wie ein Mensch für eine Tat geköpft wurde, die zum Zeitpunkt der Tat noch gar nicht mit einer Todesstrafe geahndet wurde. Die Hinrichtung van der Lubbes durch nachträglich geschaffene Rechtsnormen macht aus dem Urteil einen großen Justizskandal.

Wem der holländische Arbeitsinvalide zu klein und zu unbedeutend angesichts seiner Tat erscheint, der zieht zunächst sein Geständnis in Zweifel. Ein Geständnis, das er gleich nach seiner Festnahme freiwillig ablegte, das er auch während der Monate des Reichstagsbrandprozesses nahezu wortgleich wiederholte: Er sei durch ein Seitenfenster in den menschenleeren Reichstag eingestiegen und habe – zunächst mit Kohleanzündern, später mit seiner brennenden Jacke und mit seinem Hemd – die Brandherde gelegt. Am Ende auch im Plenarsaal, wo wegen des Kamineffektes unter der hohen Kuppel und dank jener mürben, seit 50 Jahren ungewaschenen und ungewechselten Portieren und Wandbehänge, das Feuer erst zum Großbrand emporgelodert sei.

Die Rekonstrukteure des Verbrechens, die zu gern ein kapitales Großwild wie den Göring als Täter präsentieren würden, die haben in den unübersehbaren geistigen Verfall des Holländers viel hineingeheimnist: Sie raunten von Drogen, Folter und von Wahrheitsseren, die einen lebendigen, kräftigen Menschen in ein dumpf vor sich hinbrütendes Wrack verwandelten. Zur Erklärung genügt allerdings der schlichte Blick auf die Haftbedingungen: Vom ersten Tag an wurde van der Lubbe an Händen und Füßen in seiner Zelle angekettet. Ein Mensch, den ein nahezu unstillbarer Bewegungsdrang beseelte, wird zur Regungslosigkeit verdammt. Immer wieder war van der Lubbe zu monatelangen Wanderungen durch Europa aufgebrochen, bis tief hinein nach Ungarn oder Polen. Unverkennbar litt van der Lubbe an dem, was Ärzte heute ein ‚Hyperaktivitätssyndrom‘ nennen würden, was ‚lege arte‘ dann wohl mit Ritalin zu behandeln wäre. Die zwangsweise Fesselung eines solchen Menschen erklärt jedenfalls den geistigen Verfall zureichend.

Ob politisch motiviert oder nicht, ob nun ein Bauer oder ein Nero – eine Brandstiftung ist und bleibt natürlich ein Verbrechen. Folglich ist auch Marinus van der Lubbe ein Verbrecher. Er war trotzdem nicht jener demente Idiot, als der er vom Widerstand gezeichnet wurde. Unter der Regie des ‚roten Pressezaren‘ Willi Münzenberg veranstalteten die Exilkommunisten parallel zur Leipziger Verhandlung einen Schauprozess. In zwei Braunbüchern trugen sie ‚Beweise‘ zusammen, deren Relevanz zwischen ‚hanebüchen‘ oder ‚widersprüchlich‘ schillert, zudem quellen die Texte selbst über vor Nazi-Vokabular: Ein „Untermensch“ sei van der Lubbe gewesen, ein „asoziales Subjekt“, ein „Schwachsinniger“, ein „syphilitischer Spross eines Abenteurers“, vor allem aber ein „Strichjunge“, der zur Entourage des schwulen SA-Führers Ernst Röhm gehört habe.

Bis auf den Vorwurf der Homosexualität deckt sich dieses Bild mit der Charakterisierung des Holländers in der Nazi-Presse. Nur saßen dort die angeblichen ‚Drahtzieher‘ in Gestalt der drei Bulgaren Dimitroff, Popoff und Taneff und des Reichstagsabgeordneten Torgler gleich neben van der Lubbe auf der Anklagebank. Zum Leidwesen Hitlers mussten die mangels Beweisen dann freigesprochen werden.

Van der Lubbes sterbliche Reste liegen heute in einem anonymen Gräberfeld der Abteilung VIII des Leipziger Südfriedhofs. Zu seinem 100. Geburtstag wäre es vielleicht an der Zeit, ihm seine Tat wieder zuzusprechen – und dafür einige Legenden über ihn zu beerdigen: Denn dieser van der Lubbe war nicht nur ein Werkzeug oder ein Mitläufer, er war jener Brandstifter, der am 27. Februar 1933 den Reichstag in Schutt und Asche legte. Damit beging er ein blindes und dummes Verbrechen, das nur seinen Gegnern in die Hände spielte. Hitler, Göring und Goebbels konnten seine Tat instrumentieren, um die Arbeiterbewegung und jeden Rest von Widerstand im Reich auszuschalten.


R.I.P.: Der Südfriedhof in Leipzig. wikimedia / GNU

Van der Lubbe war trotzdem keine ‚Marionette‘, er wurde weder von Moskau noch von Berlin aus gelenkt, und er war mit Sicherheit auch nicht ‚homosexuell‘, sondern ein Arbeiter mit einem wachen und zugleich etwas wirren Kopf, den es aktionistisch zur Tat trieb, ohne dass er die Folgen genügend bedacht hätte. In gewisser Weise gab Marinus van der Lubbe eine unangemessene Antwort auf die Brecht‘schen ‚Fragen eines denkenden Arbeiters‘.

 
 
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