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31
Oktober
Zu kurz gedacht = journalistisch gedacht
Da geht es einem Schreiber also um den Aufstieg von eher unangenehmen Figuren wie Geert Wilders oder meinethalben auch dem verblichenen Jürgen Möllemann. Was fällt diesem Zeit-Besinnungs-Journalisten Paul Scheffer aber dazu ein: ein Abgesang auf "das Ende des liberalen Jahrhunderts".

Ja - rekapitulieren wir doch mal: Vor genau 100 Jahren, im Jahr 1910, hatten wir hierzulande den Wilhelminismus. Der Liberalismus war damals eine komische Trachtengruppe, die sich in ihren Freimaurerlogen tummeln durfte, im Parlament waren sie eine verschwindende Minderheit - faktisch regiert haben Adel, Junker und Militärs. Das zog sich hin bis 1918.

Danach hatten wir die Weimarer Republik. Auch hier regierten die Liberalen - wenn man einen Stresemann unbedingt dazu zählen will - nur einige wenige Jahre, zumeist in Nebenrollen. Nach einigen sozialdemokratischen Jahren (in Koalition mit dem Zentrums-Klerikalismus), regierten dann wieder die gleichen Gruppen wie im Kaiserreich - nur diesmal ohne Kaiser. Null Liberalismus also auch hier.

Dann kamen Adoof und seine Nazi-Goldfasanengarde. Wer liberal war, hielt damals entweder die Schnauze und berief sich auf die "innere Emigration" - oder er wurde als Teil der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung außer Landes oder in die KZs gejagt. Wieder zwölf Jahre, die uns hier am Wolkenkuckucksheim eines liberalen Jahrhunderts fehlen.

Ob nach 45 ein Erich Mende als Chef der FDP eher liberal oder reaktionär war, darüber streiten sich die Historiker noch heute. Auch da wehte der Mief einer katholischen Petit Bourgeoisie durch alle Gassen. Der andere Teil Deutschlands dagegen war gar sozialistisch. Wiederum kein liberales Jahrhundert weit und breit.

Unter Willi Brandt gab es ein kurzes Intermezzo, das man tatsächlich mal liberal im Hambacher Gründersinne nennen konnte. Das dauerte aber nur einige wenige Jahre. Danach kehrten mit Helmut Kohl die alte Stickluft und die bleierne Zeit zurück.

Die Liberalen in jener Zeit versuchten sich übrigens erstmals am Populismus - vide Möllemann. Auch Haider oder neuerdings auch Roger Köppel liegen streng auf ordoliberaler Linie, selbst wenn sie ansonsten die Ausländer zu Sündenböcken machen möchten. Nahezu alle Rechtspopulisten gingen durch eine liberale Schule.

Sagen wir's doch mal so: All die Haiders, Möllemänner, Sarrazins, Wilders & Co. sind der Ausfluss eines vielleicht jetzt erst beginnenden "liberalen Jahrhunderts". Liberalismus und Rechtspopulismus speisen sich aus derselben Quelle - der Konkurrenzsituation von Wettbewerbergruppen auf dem politischen Markt für knappe Mittel. Allzu gut paaren sich im Liberalismus marktradikale Überzeugungen à la Hayek mit elitärem Oberschichtendünkel gegenüber anderen - insbesondere gegenüber Ausländern. Der politische Liberalismus hat - historisch gesehen und abseits seiner Gründungsphase - mit Toleranz nur wenig zu tun.

Das feuilletonistische Gesabbel von einem "Ende des liberalen Jahrhunderts" ist jedenfalls höherer Blödsinn, bestenfalls Selbstbeweihräucherung pekuniärer Eliten oder blanke Geschichtsklitterung. Zur Entschuldigung könnte man höchstens anführen, dass der Verfasser dieses Gebräus Holländer ist, wo die Dinge vielleicht etwas anders lagen. Dann aber ist sein Text auf Deutschland einfach nicht übertragbar ... und dass der Schreiber mitsamt seinem Liberalismus auch gern ein wenig in Richtung Populismus robben möchte, ist unübersehbar. Er möchte den Liberalismus retten, indem er nach Wilders Kurdistan reitet - und den alten ideologischen Krempel über Bord schmeißt.

Parallel habe ich diesen Text auch im Stilstand verwurstet

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Sehr schön, wie Liberalismus dem Neoliberalismus gegenüber gestellt wird. Daran anschliessend hätte ich an den Autor mal eine Frage.

Warum hauen die Linken den Neoliberalen von FDP, CDU & Co nicht den Liberalismus um die Ohren oder die Väter der sozialen Marktwirtschaft oder den von-Hayek? Die hatten weissgott auch ihre Fehler, waren aber in vielen Dingen den Linken bspw. in Sachen Mindestlohn heute näher als den sogenannten Enkeln von Erhard (inkl. Müller-Armack und Eucken), welche sich immer auf die nunmehr Wehrlosen berufen. Wieso hauen die Linken den Scheinkonservativen und Scheinmarktwirtschaftlern ihre eigenen Epigonen nicht ständig um die Ohren? Bin da etwas ratlos...
 
Naja - historisch stand der Liberalismus immer in maximaler Distanz zu seinen Idealen, nimmt man einige wenige Figuren wie Friedrich Naumann mal aus, von dem die heutigen Liberalen aber allenfalls den Namen noch kennen. Gescheitert war der genuine Liberalismus schon im Kaiserreich - die Familie Buck in Heinrich Manns 'Untertan' zeigt diesen aussterbenden Typus in seiner Deszenz. Danach war der Liberalismus immer eine knallharte Interessenvertretung besitzender Oberschichten, die sich für das preußische Dreiklassenwahlrecht ebenso einsetzten wie für straffe Zügel für den Pöbel - und allen 'Sozialfirlefanz' ablehnten. Die Massen wandten sich berechtigterweise eher den 'Originalen' zu - entweder der Sozialdemokratie oder den waschechten Reaktionären. Allenfalls die jüdische liberale Bourgeoisie blieb den Idealen halbwegs treu, weil sie mit Chancengleichheit, 'freier Bahn dem Tüchtigen' und anderem sonntagsrednerischem Allotria auch die Hoffnung auf das eigene Ankommen und auf Aufstieg in der Gesellschaft verband. Was wiederum dem Liberalismus jener Liberalen, die diesen Namen im Reichstag faktisch im Schilde führten, die antisemitische Komponente mehr und mehr einimpfte. Denn dass Konkurrenz das Geschäft belebe, glauben waschechte Liberale höchstens an hohen Feiertagen. In der Realität ging es um Konkurrenzausschluss auf allen Ebenen. Faktisch stand der Liberalismus für eine immobile Gesellschaft, in der ein Aufstieg allenfalls durch das schmale Ventil der Kulturindustrien möglich blieb. Ansonsten waren die Großbürger eine geschlossene Gesellschaft auf Logenplätzen.

Zu den Linken: Wenn die Liberalen nicht so wären, wie sie sind, wo bliebe da das linke Feindbild?

Apropos - zum Thema einer angeblich 'liberalen Gesellschaft' passend auch das: "Im europäischen Vergleich zeigt sich dabei, dass der Aufstieg überall einfacher ist als in Deutschland."
 
Sie haben Recht mit Ihrer Feststellung, dass der deutsche Liberalismus als gesellschaftliche Kraft vor ziemlich genau hundert Jahren sanft dahin schwand (als sich das wilhelminische Reich um 1910 radikalisierte), und dies eindringlich an der Figur des alten Buck illustriert. Nun haben sich doch aber inzwischen auch die auf Masse und Unterordnung fixierten Nachfolgeideologien ad absurdum geführt: die sozialisitische mit der Auflösung des sowjetischen Großreichs ins Mafiöse und die national-konservative mit ihrer ihrer Selbstauslieferung an global funktionierende Wirtschaftsstrukturen.
Wäre es da nicht eine Überlegung wert, ob man nicht einfach wieder wie am Anfang des 19. Jahrhunderts beginnt: mit Liberalismus als Freiheitsideologie?
 
Naja, die Grünen als genuine Interessenvertretung der 'Clerks' stehen heute in dieser vernunft- und bildungsbürgerlich orientierten Tradition. Sie repräsentieren derzeit, soziologisch gesprochen und allen Untersuchungen zufolge, die 'Funktionseliten' unserer Gesellschaft - also Beamte, Ingenieure, Akademiker usw. Auf eine Rückkehr der geldfixierten Westerwelle-Liberalen zu ihren ideologischen Wurzeln dagegen hoffe ich schon längst nicht mehr. Dort versammeln sich eher bildungsferne Schichten: Jura, Medizin, BWL oder Pharmazie sind schließlich keine sonderlich bildungsfördernden Studiengänge. Bei den Grünen jedenfalls ist die 'Hambacher Tradition' noch am lebendigsten, weshalb die Gelben auch gegen niemanden so laut polemisieren wie gegen die Grünen.
 
Ich bewundere Ihren Scharfsinn und fühle mich durchschaut: Da haben Sie doch nur aufgrund meiner (wie ich dachte, fern aller Parteipoitik stehenden) Überlegungen glasklar erkannt, wen ich trotz Özdemir immer noch meistens wähle.
 
Ach - den Özdemir, den lass man! Mir geht dort die tränenselige Kantinenwirtin 'Zur grünen Rampensau' viel mehr auf die Nerven ...
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