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24
Juli
In somnambuler Umnachtung:
Die 'Schlachte' in Bremens Altstadt liegt direkt an der Weser. Sie ist ein beliebter gesellschaftlicher Treffpunkt, mit Kneipen, Restaurants und viel Trallafitti, wo die versammelte Angestelltenkultur die 'Blue Hour' gern in eine 'Late Night' unter freiem Himmel verwandelt. Für Menschenstudien ist die Schlachte ideal.
Eine Gestalt jedenfalls, wie diejenige, die sich gestern dort am Nebentisch niederließ, die hatte ich zuvor nie gesehen. Eindeutig war der Anzug nicht von Dekker, Guess, Hilfiger oder einem der üblichen Verdächtigen - das Gebilde lag preislich kilometerweit darüber: Londoner Maßkonfektion vermutlich. Jede Falte saß - und am ganzen Körper wellte sich nirgendwo ein Gramm überflüssiges Fleisch, geschweige denn, dass schnödes Fett an diesem Adonis schmarotzte. Selbst die Socken waren aus Seide, aus blütenweißer Seide wohlgemerkt. Der Mann, der durfte das nämlich! Aus der Brusttasche quoll ihm kein impressariomäßiger Angeberflokati aus der Dieter-Bohlen-Welt, nein, ein mikrowinziges weißes Tüchlein plierte vorwitzig über den Rand der handziselierten Brusttasche. Nichts glänzte loddelhaft gülden an dieser blonden Reckengestalt - ih wo! Die Armbanduhr wie die Krawattennadel, die waren schlicht metallisch grau, wie der Anzug auch. Mit einem Wort: Wäre ich auch nur annähernd ein ganz klein wenig schwul gewesen, dann hätte ich an diesem Abend meinen Traumprinzen gefunden. Die Schlachte - ein Ort für Schlachtfeste der dritten Art. Dann machte er den Mund auf: "Je'nfalls", sagte er, "je'nfalls also hab' ich mir denn dann daraufhin den Alten seine Karre gegriffen und bin zu dem Heini da direkt rausgefahr'n, um ihm endlich ma Bescheid zu stoß'n. Ich mein, was soll'n so was, ej, das kannse mit jema'n wiä miär doch nich mach'n ... ". Dank der nölenden Stimme und verqueren Grammatik waren Magie und Illusion urplötzlich dahin. 'Plopp!' sagte die schillernde Seifenblase: 'die Welt ist schlecht, sie will keine Illusionen'. Die zwei Kumpels an meinem Tisch, die fragten mich prompt, was mit mir los sei. Ich sähe ja aus, als hätte ich eine Erscheinung gehabt. Kryptisch - zumindest wohl für sie - antwortete ich, dass eine Typberatung viel mehr sein müsse als bloß eine Klamottenberatung. Das zweite Gesicht Beim zweiten Blick, den ich dann riskierte, erschien der Mann dort drüben mir völlig verwandelt: Hinter dem schnieken Anzug sah ich plötzlich die rote Litewka und die goldene Litze des Leierkastenäffchens hindurchblitzen. Statt der teuren Zigarre, die er mit perfekt manikürten Fingern kunstgerecht beschnitt, hörte ich ihn mit der Sammelbüchse des Außendienstlers klappern. Während dazu die schwindsüchtige CI-Orgel seines Chefs 'Same Old Story' dudelte, wozu der Affe entzückt aufkreischte und anerkennend die Zähne bleckte. Solche Zustände plötzlicher Einsicht nenne ich mein 'zweites Gesicht': Ich glaube übrigens fest daran, dass jedes qualitative Schreiben mit solch somnambulen Zuständen eng verbunden ist. Zumindest geht die Imagination einem guten Text auf diese Weise voraus. Mich überkommen meine 'Einsichten' meist völlig überraschend, an allen möglichen Orten, oft bei völlig banalen Tätigkeiten. Zum Beispiel, wenn ich mich zur Spätausgabe der Tagesschau schon vom Tag verabschiedet habe und mit offenen Augen noch ein wenig vor mich hin döse und im Sessel räkele. Die TV-Akteure erscheinen mir im Halbschlaf in einem anderen Licht - und, wie ich finde, oft in viel angemesseneren Kleidern. Guidos neue Kleider Vor einigen Tagen sah ich auf diese Art unseren allseits geliebten Horst Köhler - gar nicht mehr auf repräsentativ und bundespräsidial gebürstet, sondern als kleinen Jungen im blauen Konfirmandenanzug. Die neuen schwarzen Schuhe quietschten und drückten gottserbärmlich, der Anzug kniff unter den Achseln, und er hatte schon Blasen an den Hacken. Trotzdem musste er noch den ganzen Mittelgang entlang durch das Kirchenschiff schreiten, um vorn die Hostie zu empfangen. Da riss unser Musterschüler sich zusammen, er lächelte heldenhaft für die versammelten Onkels und Tanten - und natürlich für die Galerie - und dann tat er feierlich daherhumpelnd, was als braver Bub seines Amtes war. Und - zum Henker! - an dieser Beschreibung ist, wiewohl surreal, manches auf eine höhere Art völlig richtig. Beim Anblick von Bayerns Beckstein dagegen sehe ich eine endlos lange Allonge-Perücke, geeignet, die ganze Person und nicht nur das Frisur getaufte Elend auf diesem Eulenspiegelkopf zu verdecken. Hinzu kommen zwei dünne Knickebeine und eine schwarzseidene Bundfaltenhose, darüber die dunkle Richterrobe und ringsum endlos hohe Aktenstapel. Für mich sieht der Mann aus, wie einem Charles-Dickens-Roman entsprungen - zum Exempel aus 'Bleakhouse'. Und hier wie dort ist seine ganze Jovialität nur pure List, um mit Bauernschläue für den Fall des Falles Beweise und Argumente zu sammeln. Um erneut in Revision gehen zu können, denn hartnäckig ist er ja. Anders der Westerwelle. Der Anzug weicht bei ihm dem grauen Kittel des freischaffenden Werkstattingenieurs, der als selbständiger Garagenunternehmer lange im Verborgenen an seinen Polit-Erfindungen pfriemelt und wurkelt. Ein wenig wirkt er auf mich wie Daniel Düsentrieb, halb autistisch und ständig aufgezogen, als hätte er im Erfinderrausch mal wieder beide Finger in die Steckdose gebohrt. Unter Heurekarufen rennt er in solch manischen Momenten vor die Kameras, mit einem Kopf voll nachflackernder Glühbirnen. Er schwadroniert dann von angeblich absolut niegelnagelneuen Erfindungen des Ultraliberalismus, die nur leider die Welt nie braucht - oder aber schon kennt. Nur nicht von ihm, dem ewigen Me-Too-Unternehmer und juvenilen Insolvenzverwalter des Frühkapitalismus. Bei unserem Außenminister dagegen, dem Herrn Steinmeyer, muss ich seltsamerweise immer an die wilhelminische Kaiserzeit denken. Nicht dass der Mann ein Militarist wäre - Gott bewahre! Ich sehe ihn aber mit meinem zweiten Gesicht trotz seiner Silbermähne in kurzen Höschen dastehen und im Matrosenjäckchen, wobei er patriotische Fähnchen schwenkt und die deutsche Flotte mit ihren Schlachtkreuzern mal hierhin und mal dorthin schickt. Zu Jubiläen und Geburtstagen ruft er lauthals 'Hurra!', dann, wenn ein Hurra angebracht ist. Und er hat wohl in seinem ganzen Leben noch nichts Falsches gesagt. Fast so, wie die Maschinenmenschen in den Romanen E.T.A. Hoffmanns, die auch nur ihre Automatensprüchlein draufhaben. Seltsam ging es mir auch mit der Claudia Roth, die ich urplötzlich im Bastrock als - oops! - Negerkönigin in einem jener alten Missionarswitze zu erblicken meinte, wo der Humor immer dann ein gewisses Niveau erreicht, wenn der hingestrichelte Medizinmann mit seiner Totenkopfkette den gefesselten Missionar im Kessel über dem Feuer fragt, ob's noch ein wenig mehr Salz sein dürfe. - Dabei trägt die Frau doch meistens Hosen! Die Einzige übrigens, bei deren Anblick mein zweiter Blick versagt, das ist unsere hochverehrte Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel. Die erscheint mir immer ganz genau so, wie sie auch gekleidet ist. Schon seltsam ... Bild: Jürgen Howaldt / wikimedia / CCL
Ach!
ist das ein schönes Stückchen. Ganz fein. Innen wie außen.
Aber so ungewohnt – lang (hier an diesem Ort) ...
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Dieser Text ist mit das Schönste und Beste, was ich bisher dieses Jahr in Blogs gelesen habe. Ihre Sprache ist bildhaft schön, phantasie- und lustvoll beschreibend und malend, aber nie grölend-plagierend.
Ein Blogfilet, das dazu einlädt, selbst viel genauer und aufmerksamer hinzuschauen, um solche Gesellen nicht zu verpassen. Neben sich auf der Bank, und, fast einfacher, gar im Fernsehen! |