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04
Juni
Erscheint mir unwürdig:
Inter faeces et urinam nascimur.
(Zwischen Unflat und Urin kommen wir zur Welt.)
Das Gerken
Disclaimer: Über meine ehemalige Lieblingskneipe hier in Bremen sollte ich einen total subjektiven Text schreiben. Der aber war dem Auftraggeber dann doch 'zu subjektiv'. Sei's drum. Dann erscheint er eben hier. Los geht's:
„Wer rausgeht, muss auch wieder reinkommen“, rief Herbert Wehner einst einigen Unionshanseln hinterher, als die empört und türenballernd den Plenarsaal verließen. So ähnlich ging’s dem Gerken und dem Zeitgeist. Stolperte der mal, über den Retro-Look dort drinnen zeternd, aus der Schwingtür, kehrte er garantiert einige Wochen später als reumütiger Trend zurück. Schließlich ist das Gerken keine Gastwirtschaft, sondern eine höchst menschenfreundliche Institution. Wieder ein Fall kostenloser Werbung in der Sargnagelschmiede. Dort saßen dann graugesträhnte Löwenmähnen neben Irokesen, der Plattenbau neben den Popperfransen – und samstags gab’s sogar dichtgedrängte Mösenbärte mit Cord-Jacketts, mit Pfeifen, Selbstgedrehten und einem SPD-Parteibuch in der Brusttasche. Dann war ‚Jazz im Gerken’. Die Luft war zum Schneiden blau und voller Synkopen, und manch einer fragte sich, worauf der Mann am Saxophon eigentlich hinauswollte. Kurz nach Mitternacht war aber alles ‚wieder unter sich’. Gleichsam wie Angler am Fluss präsidierten dann am Tresenrand unerschütterlich „die elf Weisen aus dem Morgenland“. So nannte mein Freund Peter die Reihe sachte vor sich hin alternder Zapfhahnphilosophen, die erst im Morgengrauen das Lokal verließen. Überhaupt die Leberfrage: Im Gerken flossen unglaubliche Mengen Alkohol durch die ledernen Gurgeln hartgesottener Tresen-Trapper, ohne dass eine Schlägerei jemals auch nur im Entferntesten dräute. Okay, die Leute waren manchmal laut, auch zum Starkdeutsch geneigt, aber alle waren letztlich immer schiedlich und friedlich gestimmt, selbst dann, wenn der Promillespiegel mal wieder durch die Decke schoss. Die größte Sensation waren unter so bewandten Umständen diverse Ehekräche und gordische Liebeswirrungen – was vor allem manchen Hahnrei zu ebenso emotional wie aufgeregt geführten Diskussionen anregte, unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit. Irgendwer muss mal die Bierdeckelkollektion des seligen Buzz ausgraben, dieses genialen Pessimisten und Menschenzeichners von der ZEIT. Der saß immer rechts am Tresen und hat sie alle mit seinem Stift festgehalten, die zumeist akademisch geprägten Geschöpfe der Nacht in ihren bar(h)ockenden Allmachtsgefühlen, wo allabendlich mit raumgreifenden Gesten neue Konzepte der Bundespolitik entwickelt oder Geschlechterverhältnisse kurzerhand von den Füßen auf den Kopp gestellt wurden. Beruhigend am Gerken fand ich die Wandbilder: „So besoffen wie die kann ich noch gar nicht aussehen“, dachte ich dann. Und schon wurde dem Tresen die Order fürs nächste Weizen erteilt: „Ihr doch auch – oder etwa nüch?“ Überhaupt - die ‚Hard workin’ Women’ hinter dem Tresen, ob sie nun Imke, Sabine oder wie auch immer hießen, sie alle konnten eine ganze Horde höchst skurriler Testikelträger um den Finger wickeln! Eigentlich waren sie das Markenzeichen des Gerken – wobei sie durch untrügliche Stimmungsmache dafür sorgten, wie willkommen man sich im Gerken fühlte. Warst du doof oder hohl, wurde es zunehmend kühler um dich herum. Unpassende Figuren schiss das Gerken aus wie die Hasenkötel, nur die wunderbare Gerken-Mischung blieb zurück: Eine angeberfreie Zone, die vielen der Gäste so etwas wie Heimat und Familie gab. Sogar ein grüngestrichener Sparclub hing an der Wand – bei feierlicher Eröffnung der Fächer irgendwann um Nikolaus herum. Der großmütige Sieger gab natürlich erst mal einen aus, was zum Beginn einer großartigen wechselseitigen Einladerei wurde, die manchen in schieres Gebrabbel und neue Deckel stürzte. Der Nebenraum im Gerken diente verschiedensten Zwecken, aber nur selten zu etwas Vernünftigem: Mal tagte dort die Frauengruppe ‚Lila Periode’, dann kam sich der grüne Kreisverband hochbedeutend vor, gelegentlich lockte der Gabentisch für den Preis-Doppelkopf mit Wacholderfläschchen und gebrauchten Video-Recordern: „Geht aber noch!“. An anderen Abenden ertönte Gitarrengeschredder, was zwar den Ohren Gewalt antat, aber - in der Sprache heutiger Werber - immer höchst ‚unique’ klang. Eins aber war heilig – das war das Klavier. Oh Gott, wer da schon alles drauf gespielt haben sollte, ich weiß es schon gar nicht mehr! Wehe, ein Unwürdiger näherte sich ‚Massa’s Big Black Box you hittem into Teeth he Cry’. Das Klavier wurde nur zu besonderen Gelegenheiten und für wahre Virtuosen aufgeklappt. Also faktisch nie. Was mich an meinem neuen Wohnort heute am meisten nervt, ist, dass er so weit vom Gerken entfernt liegt. Auch Kneipen kann man vermissen …
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